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1944/45. Erlebnisbericht über die Nutzung der leerstehende "Bullenhalle" in Aurich

Von Bonno Eberhardt, Norderney

Im Kriegsjahr 1944 wurde die Landwirtschaftliche Halle an der Emder Straße als Lehrwerkstatt des Seenot-Fliegerhorstes Norderney eingerichtet. Dieses war eine Vorsorgeeinrichtung wegen einer befürchteten Invasion der Engländer an der Deutschen Nordseeküste. Sämtliche Ausrüstungsgegenstände von Maschinen wie Werkbänke, Drehbänke, Fräsen, Bohrständer und alle Werkzeuge, die für den Beruf eines Metall-Flugzeugbauers und Flugmotorenschlossers gebraucht wurden, sind aus der Lehrwerkstatt des Seenot-Fliegerhorstes Norderney, welche in der Halle "Annahme und Versand" untergebracht waren, nach Aurich befördert worden. Die große Halle stand zu der Zeit leer und wurde für die Norderneyer Lehrlinge als Wohnquartier und Werkstatt hergerichtet. Die einzelnen neu gebauten Zimmer, wo früher Großtiere standen, wurden mit je drei Lehrlinge belegt. Die Lehrmeister, alle aus der Nordergegend, bekamen je ein Zimmer im vorderem Teil des Hauses, zugewiesen. Da die Halle vorher eine Auktionshalle war, wurde im vorderen Restaurantbereich das Tagesessen gemeinsam eingenommen. Die Verpflegung war der damaligen Zeit angepasst und reichlich. Ein Schulungsraum wurde für den theoretischen Teil der Lehre eingerichtet. In der Zeit von Herbst 1944 bis Mitte April 1945 waren ca. 18 Lehrlinge aus ganz Ostfriesland dort untergebracht.

Alle Lehrlinge waren in der grauen Flieger- HJ- Uniform gekleidet und es herrschte eine ausgleichende Disziplin. Der Tagesablauf war nach einem Stundenplan geregelt. Das Wochenende (Samstag u. Sonntag) stand zur freien Verfügung. Hier hatten es die Lehrlinge, die aus der Umgebung von Aurich und Norden kamen leichter. Sie konnten in der Freizeit ihr Elternhaus aufsuchen, was wir Norderneyer nicht konnten. Dafür haben wir Aurich und die nähere Umgebung ausgekundschaftet. Persönlich habe ich zu der Zeit die Landschaft um Aurich herum kennengelernt. Hängen geblieben ist bis heute bei mir, ein Erlebnis beim Torfstechen in Berum. Im Spätsommer 1944 mussten wir unser Brennmaterial für die Beheizung unserer Unterkünfte selber besorgen. Conrad Heeren aus Norden, Osterstr. 47 war der Schulische Leiter der Lehrwerkstatt in den Jahren 1944 bis 1945 in Norderney und in Aurich. Den technischen Teil der Verantwortung unter dem Ing. Melzer, lag noch beim Fliegerhorst Norderney. Heeren hatte Verwandtschaft auf dem Hochmoor. Emil Heeren hatte dort einen kleinen Gutshof, in dem heute die Fehngesellschaft beheimatet ist. Neben dem Gutshof stand der leere Pferdestall, worin Serbische Soldaten ihre Gefangenschaft verbrachten. Auch wir wurden hier einquartiert und mussten zusammen mit den Gefangenen, die keine Bewachung hatten, Torf stechen. Ich habe zum ersten Mal die Wörter "Spitt und Hocken" gehört. Es war für uns Jungen, alle so um die 15-bis 17 Jahre alt, eine abwechslungsreiche Arbeit, die wohl schwer war, aber die wir auch körperlich bewältigen konnten. Geschlafen wurde im Pferdestall auf frischem Stroh. Jeder, der schon einmal in so einem Stall geschlafen hat, kennt das Gefühl, wenn er morgens aufwacht, dass "Muusköttel" in seinem Haar waren. Die Mäuse fielen nachts durch die offene Heuklappe vom Heuboden.

An der Wegekreuzung, schräg gegenüber vom Pferdestall, stand ein kleines Kolonisten Haus. Hier wohnte ein Ehepaar mit seiner Tochter. Der Mann hatte die Aufsicht über das Moorgebiet und er gab uns Anweisungen, wie wir es machen mussten. Seine Frau war für die Verpflegung unserer "Truppe" zuständig. Für uns Insulaner der Lehrwerkstatt war es jeden Morgen, wenn es Frühstück gab, ein freudiges Erlebnis, wenn die Frau am offenen Herd stand und "Roogmehl-Pannkook mit Speck un Sirup" in Lein-Öl für uns backte. Dazu eine Tasse Ersatzkaffee. Dieses an Nährstoffen ausgiebige Frühstück hielt bis zum Mittag an.

Später, im November 1944 mussten wir noch einmal die "Ausgrabungsstätte" besuchen, um den in die Herbstmonate getrockneten Torf mit einem Ackerwagen, gezogen von zwei "Rappen" nach Aurich zu fahren. Gelagert wurde das Heizmaterial in einem Schuppen. Bei dieser Gelegenheit haben wir auch gelernt, was Weiß- und Schwarztorf bedeutet.

In guter Erinnerung habe ich noch, wie jeden Morgen an unserer "jetzigen Auricher Lehrwerkstatt" auf der Emder-Straße ein langer Zug von Sträflingen in blau, gelb und braun gestreiften Drilligzeug und unter Bewachung, in Aurich einmarschierten. Für uns Jugendliche waren es Gefängnisinsassen, die in Aurich bei Handwerksfirmen arbeiten mussten. Erst Jahre später erfuhr ich, dass es Leute waren, die wahrscheinlich im alten Kasernenareal Ellenfeld eingesperrt waren. Auch, dass in unserer Auricher Lehrwerkstatt (Bullenhalle) Juden in der Pogromnacht am 9. November 1938 eingesperrt waren, bin ich erst jetzt, bei meinen Recherchen im September 2016 gewahr geworden.

In der Auricher Zeit unserer Lehre mussten wir Lehrlinge unsere Segelfliegerprüfungen A. in Hellberge bei Hamburg und B. in Gardelegen bei Berlin absolvieren. Während der Rückreise Anfang April 1945 von Gardelegen nach Aurich sagten uns auf dem Hannover Bahnhof Soldaten, die von der Front kamen: Jungs geht nach Hause, der Krieg ist bald vorbei. In Aurich wieder angekommen, merkten wir sofort, dass zwischen unserem Vorgesetzten eine gedrückte Stimmung herrschte. An einem Vormittag Mitte April hieß es: Ihr müsst heute ein tiefes Loch im Garten links neben der Halle, graben. Den Garten mussten wir sowieso bearbeiten, denn das Gemüse und die Kartoffeln wurden für die Eigenverpflegung gebraucht. Nachdem das Loch ausgegraben war, wurden alle wertvollen Messgeräte, wie Schieblehren, Mikrometerschrauben und Sonstige Kleinwerkzeuge in Ölpapier eingewickelt und sorgfältig in das Loch gelegt und mit dem Erdaushub wieder zugeschüttet. Alles wurde wieder Gartenmäßig hergerichtet. In den Rundfunknachrichten hörten wir, dass die Engländer und Kanadier in Ostfriesland einmarschiert sind. Unser Schulleiter Heeren gab uns zu verstehen, dass der Krieg im Endstadium sei, und die Lehrwerkstatt wird geschlossen, ab morgen geht ihr nach Haus.

Ich habe mir damals ein Damenfahrrad von meiner Tante, die in Aurich wohnte, geliehen und hierauf wurden unsere Habseligkeiten verstaut. Da auch der Tiefeinstieg beladen war, musste ich das Rad schieben. Wie waren noch acht Norderneyer die sich jetzt auf dem Heimweg machten. Die Emder- Straße bis Georgsheil ging nicht. So wurde beschlossen, wir marschieren quer durch die Felder von Aurich aus bis nach Norddeich. Diesen Entschluss hätten wir bald mit dem Leben bezahlt. Englische Tiefflieger schossen auf alles, was sich auf dem offenen Gelände zeigte. Wir mussten mit ansehen, wie ein Landwirt mit seinem Pferdegespann, der gerade beim Pflügen seines Ackers war, von einer Spitfire niedergeschossen wurde. Bei jedem Fliegergeräusch haben wir uns auf den Boden oder an eine Grabenwand geworfen und abgewartet, bis das feindliche Flugzeug vorbeigeflogen war. Mitunter konnten wir die Piloten in ihrer Kanzel sehen, so tief flogen sie.

Wir sind heil in Norddeich angekommen, nur der Schiffsverkehr war sehr eingeschränkt und so sind wir alle acht Norderneyer mit einem Frachtschiff auf unserer Insel gelandet. Meine Mutter war so froh, dass ich als ältester Sohn wieder zu Hause war, denn mein Vater war in Holland in englischer Gefangenschaft und kam erst ein halbes Jahr später heim.

Nach dem Zusammenbruch am 8. Mai 1945 ging von uns Lehrlingen jeder seinen eigenen Weg, aber in all den Nachkriegsjahren waren wir immer Kameraden geblieben. Alle haben einen anderen Metall-Beruf weiter erlernt und nach einem Jahr zusätzlicher Lehrzeit die Gesellenprüfung mit gutem Erfolg bestanden. Das vergrabene Werkzeug wurde 1946 von den damaligen Lehrlingen, die auf dem Festland wohnten, ausgegraben, jedoch war es unbrauchbar geworden. Die Teile waren trotz aller Vorkehrungen, verrostet.

Wenn ich heute im Jahr 2016 noch einmal die Zeit Revue passieren lasse, komme ich zu dem Entschluss: Meine Generation hat nach Mai 1945 bis heute die schönsten Erdenjahre erlebt, so lange man zurückdenken kann. Warum sind meine Gedanken so?

  1. Ich habe als junger Mensch eine Diktatur erlebt.
  2. Ich habe einen totalen Krieg mit dem völligen Zusammenbruch einer Nation miterlebt.
  3. Ich habe eine Hungerzeit in den Jahren 1946/47 mitgemacht und habe gelernt, wie man in jungen Jahren eine Verantwortung für die eigene Familie übernimmt.
  4. Das Wort Demokratie kannte ich bis dahin nicht und habe nach der Währungsreform 1948 einen Aufschwung erlebt, der für jeden auf der Insel einen kleinen Wohlstand brachte.
  5. Ich habe eine gewaltige medizinische Entwicklung zum Wohle der Menschen erlebt.
  6. Ich habe eine gewaltige technische Entwicklung bis heute miterlebt und zu guter Letzt: 70 Jahre Frieden in unserer Region, was früher auch in Ostfriesland nicht gängig war.

Heute mit 87 Jahren bin ich dankbar, alle Erinnerungen noch auf Papier bringen zu können. Wer mehr über meine Dokumentationen wissen will, soll im Internet unter Chronik Norderney gehen. Dann auf Download und unter Bonno Eberhardt kann man alles nachlesen und passende Bilder sind dazu auch vorhanden.

Wenn man mich fragt, warum hast du deine Erinnerungen erst heute geschrieben, so ist die Antwort ganz einfach.
Der Zeitungsbericht am 21.09.2016 in der Echo-Ausgabe unter Stadt und Land: "Kino-Neubau: Flyer sorgt für Aufregung" hat mich so inspiriert, dass beim Lesen alle Erinnerungen über die damalige Zeit wie ein Film in meinen Kopf abliefen. Die Neurologen sagen: Im zunehmenden Alter aktiviert sich das Langzeitgedächtnis und leider dezimiert sich dabei das Kurzzeitgedächtnis.

Allerbest un bit een annermal
Bonno Eberhardt, sen.

PS. In Aurich war der zweite Jahrgang von Lehrlingen untergebracht, die eine Lehre auf dem Seenot-Flughafen Norderney absolvierten.
Es waren folgende Norderneyer Jugendliche in Aurich mit dabei: Bonno Eberhardt, Karl-Heinz Janssen, Helmuth Hönnig, Herbert Holtkamp, Erich Harms, Ferdinand Onnen, Hans Ulrichs, Hermann Weber.

Die landwirtschaftliche Halle in Aurich, Emderstr. 19

Die landwirtschaftliche Halle in Aurich, Emderstr. 19, im Volksmund "Bullenhalle". Von 1944 - 1945 Lehrwerkstatt des Seenot-Fliegerhorstes Norderney.

Lehrzeugnis


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