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Der Beitrag über den Alltag auf den ostfriesischen Eilanden erschien 1804 in Weimar.
VON JOHANN HADDINGA
"Eine kaum glaubliche Trägheit für jede Arbeit ist das Erbtheil der meisten Bewohner ... von den Ostfriesischen Inseln, mit Ausnahme der von Norderney, bei welchen die Begleiterin des Fleißes, der Wohlstand, auch sichtbar ist."
So charakterisierte der Jeveraner D. U. Heinemeyer die Insulaner, nachdem er zwischen 1801 und 1803 dreimal die Eilande vor der ostfriesisch-oldenburgischen Nordseeküste bereist hatte. Seine Eindrücke veröffentlichte er im Februar 1804 im siebten Jahrgang der "Allgemeinen Geographischen Ephemeriden" (Notizen), die von einer Gelehrten-Gesellschaft im Verlag des "Landes-IndustrieComptoirs" in Weimar allmonatlich herausgegeben wurden und für ein wissenschaftlich interessiertes Publikum bestimmt waren.
Nach der Veröffentlichung in der Gelehrten-Publikation gerieten Heinemeyers Bemerkungen zur damaligen Inselwelt jedoch völlig in Vergessenheit. Dennoch ist es aus heutiger Sicht durchaus reizvoll, seinen Beitrag näher unter die Lupe zu nehmen - auch wenn viele der darin enthaltenen Feststellungen mit späteren Forschungsergebnissen und heutigen Gegebenheiten nicht übereinstimmen. Um ein literarisches Fundstück mit Seltenheitswert handelt es sich allemal.
Abfällige Urteile
Das abfällige Urteil über die angebliche "Trägheit" der meisten Inselbewohner begründete Heinemeyer mit folgender Beobachtung:
"Gleich dem Faulthiere bewegt sich der Insulaner nur aus Noth von seinem Platze. Hat ein heftiger Wind sein Haus und Garten mit dem wie Schneegestöber sich thürmenden Sande beschüttet, so strengt er, wann der Wind sich gelegt hat, seine Kräfte an, um sich aus der Thüre des mit 4 bis 5 Fuß hohem Sande umgebenen Hauses einen Weg zu bahnen ... Vorzüglich ist die Trägheit bei den Insulanerinnen einheimisch. Selbst das wenig Anstrengung erfordernde Spinnen ist ihnen verhaßt. Auf der Insel Borkum war im Jahre 1786 kein einziges Spinnrad zu finden. In diesem Jahre beklagten sich verschiedene Bewohner dieser Insel beim Könige von Preußen, daß es ihnen an Fonds zur Unterstützung der Witwen und Waisen der verunglückten Seeleute fehle. Um den Armen zu Hülfe zu kommen, wurde auf königliche Kosten die Spinnerei eingeführt, 80 Spinnräder, 40 Haspel und der benötigte Flachs ... angeschafft und unter die Insulanerinen vertheilt ... Allein es hat sich bis jetzt, wenigstens bis 1796, nicht nur keine Insulanerin darum verdient gemacht, sondern sie haben die Werkzeuge, die ihnen zum Erwerb einiger Nahrungsmittel vom Landesherrn geschenkt waren, muthwilligerweise verbrannt, um in ihrer Faulheit beharren zu können." Diese Behauptung übernahm Heinemeyer von Johann Conrad Freese, der sie 1796 in einer in Aurich erschienenen Beschreibung Ostfrieslands zuerst verbreitet hatte.
Einseitige Kost
Selbst was die "wohlthätige Mutter Natur dem denkenden Menschen zuführet", verschmähe der Insulaner, heißt es bei Heinemeyer weiter. Er begnüge sich lieber mit den schlechtesten Nahrungsmitteln, "als daß er die von der Natur ihm gespendeten Gaben in Empfang nehmen und benutzen sollte." Hätten die ostfriesischen Inselbewohner "die Lust zur Jägerey", so könnten sie ihren Tisch statt ihrer vielen Mehlspeisen und der an der Luft gedörrten Fische mit wohlschmeckenden Vögeln wie Wildgänse und Enten decken. Im Gegensatz zu den Ostfriesen esse der Helgoländer sogar Seeschwalben und Möwen. Selbst schmackhafte Fische wie Dorsch, Kabeljau, Schellfisch und Stint sowie Meeresdelikatessen wie Hummer und Krabben würden von den ostfriesischen Insulanern nur wenig "verfolgt".
Lobend erwähnte Heinemeyer auch in einem anderen Zusammenhang die "sehr gut kalkulierenden" Helgoländer und die Bewohner von Blankenese bei Hamburg, "die vom April bis spät im Herbste ganze Ladungen von Fischen in Altona, Hamburg und Bremen mit sehr vielem Gewinn verkaufen", wohl wissend, dass "die Seefischerei ein den Wohlstand sehr beförderndes und den Müßiggang verhinderndes Geschäft" sei.
Fischfang vernachlässigt
Die ostfriesischen Insulaner hingegen vernachlässigten "gänzlich den Fischfang" und den damit verbundenen Handel.
Heinemeyer: "Ich habe bei meinem mehrmaligen Aufenthalte zu Wangeroog gesehen, daß der dasige Voigt seinen Fischbedarf von den auf der Rheede von Wangeroog ihre Netze trocknenden Blankenesern kaufen ließ. Es ist zu bedauern, daß nicht die Wangerooger und die Bewohner der jeverischen Küsten auf den ergiebigen Schellfisch-, Kabeljau- und Schollenfang auslaufen. Ruhig sehen sie zu, daß die Blankeneser jetzt die alleinige Seefischerei in der Jade treiben ... Selbst dem wegen seines Felles und seinem zum Thran dienenden Fettes beliebten Seehund, Saalhund oder Robbe stellen die Insulaner wenig nach, obgleich er sich in großer Anzahl an den entfernten Küsten der Insel lagert und sehr leicht durch ein Paar Schläge auf die Nase getödtet werden kann."
Wahr sei allerdings, dass der Insulaner seinen Garten wegen der rauen Nordwinde und der "Überschüttung mit Flugsand" nur mit einiger Mühe anlegen könne. Weniger Schwierigkeiten bereite dagegen die Trinkwassergewinnung. Zitat: "Man gräbt sechs bis acht Fuß tief, setzt ein Faß hinein, und so ist der Brunnen in einer halben Stunde gemacht. Das auf diese Weise gewonnene Wasser ist süß und rein."
Die Viehzucht werde auf den Eilanden fast nur für den Eigenbedarf betrieben. Das Rindvieh sei zumeist mager und die Schafe litten an Räude und Grind. Schädlich seien die wild lebenden Kaninchen, "weil sie die Dünen durchwühlen und Gras und Helm abfressen".
Die Bande des Blutes
Getreu einer uralten friesischen Sitte, der die Heirat mit Fremden verachte, wähle der Insulaner gewöhnlich ein auf seinem Eiland geborenes Mädchen zur Lebensgefährtin. Die Inselbewohner seien daher auch als eine durch die Bande des Blutes miteinander verknüpfte Familie zu betrachten. Nur die vom Festland entsandten Prediger und Schullehrer gehörten nicht zu "dieser Sippschaft", schreibt der Verfasser.
Zitat: "So wie in den älteren Zeiten, vermeiden die Insulaner den Umgang mit Fremden. Sobald Personen vom festen Lande in ihre Gesellschaft treten, ist ihr Gespräch beendigt ... Es ist ein seltener Fall, daß der Insulaner seine Geburtsinsel verlässt und sich auf dem Continent (Festland) niederläßt. Selbst nicht einmal das arme Mädchen, das sich in andern Ländern als Dienstmädchen ein reichlicheres und besseres Auskommen zusichern kann, begiebt sich gerne von der Insel. Dieses stete Zusammenleben in einem Cirkel, diese stete Absonderung von den Bewohnern des festen Landes ist als Hauptursache zu betrachten, daß man hier noch so viele Spuren der alten Sitten, Gebräuche und Sprache finden kann. Auf der ganzen Insel-Reihe von Wangeroog bis Texel hat sich die alte Sprache, die man in England die Angelsächsische und in Teutschland die Altfriesische nennt, am längsten unverfälscht erhalten." Bedauernd fügt der Autor hinzu, dass sich die alte Sprache von Jahr zu Jahr mehr dem Plattdeutschen nähere.
Nach wie vor gebräuchlich seien dagegen noch einige Vornamen des "friesischen Alterthums" - bei den Männern beispielsweise Tomme, Tees, Wadde, Reiner oder Geriet und bei den Frauen Lucke, Inke, Foolke, None, Wemke, Tatje, Aafke, Blide oder Haafske.
Die Moral der Insulaner
Das Beten und Kirchengehen sowie die Teilnahme am Abendmahl lasse bedenklich nach, heißt es in Heinemeyers Bericht von 1804. Ein Kranker lasse sich nur noch selten das Nachtmahl reichen. Der "Katechismus der Moral" genüge dem Insulaner. Er schlafe ruhig bei offener Haustür, denn Mord, Diebstahl und andere Verbrechen würden nicht verübt. Die Schamhaftigkeit und Keuschheit der Frauen "stehe in ihrer Glorie da". Eine Ehebrechin müsse gewiss die Insel verlassen, um der allgemeinen Verachtung und Beschimpfung zu entgehen. Ein siebzigjähriger Bewohner auf Norderney, so Heinemeyer, habe ihm versichert, dass dort seit Menschengedenken keine Ehe geschieden worden sei und dass es im vorauf gegangenen 18. Jahrhundert nur eine einzige uneheliche Geburt gegeben habe.
Die reine, stark mit Sauerstoff geschwängerte Seeluft verlängere bei sehr vielen Insulanern das Leben über 70 und weitere Jahre hinaus. Gegen die am häufigsten vorkommenden Erkältungskrankheiten werde warmes Bier mit Sirup und Ingwer verabreicht. Auch Augenkrankheiten seien nicht selten. Das häufige Benetzen mit Seewasser und der tägliche Anblick des blendend weißen Sandes seien dem Auge vermutlich sehr schädlich. Vorteilhaft sei, dass man die Inselkinder nicht - wie im übrigen Ostfriesland - in Schnürbrüste einzwänge, sondern sie mit einer weiten Kleidung umhülle und im weichen Sand und im Seewasser herumlaufen lasse; die Zahl der Verkrüppelten, Lahmen und Hinkenden sei daher auf den Eilanden sehr gering.
Kleidung und Möbel
Zitat: "Die Mannspersonen sind größtentheils von mittlerer Statur und haben ein bräunliches, von der Sonne verbranntes, viel Manneskraft andeutendes, längliches, meistensteils mit der Habichtsnase geziertes Gesicht. Mehr an Zigeunerinnen erinnernd ist der Teint der Insulanerinnen. Die auffallende Kleidung des männlichen Geschlechts bestehet gemeiniglich aus braunen oder blauen Jacken oder Röcken mit übersponnenen oder knöchernen Knöpfen, weiten Schifferhosen und einem rothen Halstuche, das auf dem Rücken einen Triangel bildet. Von der täglichen Kleidung der Frauenzimmer zeichnet sich der rothe Rock, die Schürze von grober Leinwand und ein buntes Halstuch aus. Sowohl die Kleidung des Insulaners als sein Bette und sein ganzes Ameublement verkündet seinen hohen Sinn für Reinlichkeit und seinen bizarren Geschmack. Er liebt vorzüglich alle grellen Farben. Seinen Wohlstand kündet er durch einen kolossialischen Schrank, durch mehrere roth und blau bemalte Kisten und Schachteln, durch eine friedliche Wanduhr, durch einen mit buntscheckigen Estrichen eingefassten Kamin, dessen Gesimse mit blau-bunten Schüsseln besetzt ist, durch ein mit vielen glänzenden zinnernen Tellern und Schüsseln angefülltes sogenanntes Tellerik und durch viele an den Balken des Zimmers aufgehängte zinnerne Bierkannen und Theetöpfe neben den Nachttöpfen an."
Die Inselbewohner gehörten keinem der drei ostfriesischen Stände an, sondern seien in jeder Hinsicht dem preußischen König unterworfen, heißt es bei Heinemeyer. Bei den Abgaben an den ostfriesischen Landesregenten handele es sich größtenteils um Fische oder deren Verkaufserlös. Der jeweilige Vogt übe die niedere Gerichtsbarkeit aus. Bei seinen richterlichen Untersuchungen gehe es zumeist um Schlägereien und Misshelligkeiten bei der Verteilung von angetriebenem Strandgut.
Verbannungsorte?
Schließlich unterbreitet Heinemeyer dem preußischen Staat einen aus heutiger Sicht kurios anmutenden Vorschlag: Weshalb, so fragt er, verbannt man verurteilte Mörder und andere Verbrecher nicht auf eine der ostfriesischen Inseln und lässt sie dort ihre Missetaten verbüßen? Von dort könnten sie kaum entweichen. Man müsse nur ein gut bewachtes Gebäude errichten und die "Züchtlinge" mit sinnvoller Arbeit beschäftigen. Sie könnten Fischernetze stricken oder die stets vom Meer bedrohten Sanddünen mit Helm bepflanzen. Stattdessen verbanne der preußische Staat die Verurteilten seit einigen Jahren mit viel Aufwand nach Sibirien.
Norderneyer Wohlstand
Vor der Küste des Norderlandes besuchte Heinemeyer die Inseln Baltrum und Norderney. Juist hat er offensichtlich nicht betreten. Wie er schreibt, unterscheide sich Norderney im Hinblick auf den Wohlstand und den Fleiß seiner Bewohner auffallend von den anderen Inseln. Hier lebten im Jahre 1802 rund 750 Einwohner in 102 Häusern. Die Zahl der Fischereifahrzeuge sei zwar von 30 im Jahre 1755 auf zehn zurückgegangen, aber die Anzahl der mehr Gewinn bringenden Frachtschiffe sei von einst 15 auf 30 gestiegen. Mit 16 Kühen, neun Pferden und rund 500 Schafen sei auch die landwirtschaftliche Nutzung respektabel.
Die von den ostfriesischen Landständen auf Norderney errichtete Seebadeanstalt werde mit Sicherheit den Wohlstand der Inselbewohner noch vermehren. Dafür gebühre dem Medizinalrat und Landphysikus von Halem Dank und Anerkennung. Dieser Gelehrte sinne stets darauf, das Seebad Norderney vielfältig auszubauen. Die Qualität des Nordseewassers sei vorzüglich. Im Vergleich zu den Nachbarinseln verfüge Norderney vor allem über zahlreiche Häuser, die zum Vermieten an Badegäste geeignet seien.