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Insel und Küste | Weihnachtsflut 1717 | Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | DeichachtOstfriesischer Kurier und NBZ (Serie erschien vom 18.11.2017 - 23.12.2017)
Ostfrieslands "beweinungswürdige Trauernacht"
Nachdem der Resterhafer Pastor Johann Christian Hekelius zwei Jahre nach der verheerenden Weihnachtsflut vom 24. auf den 25. Dezember 1717 in Halle seine erschütternde Beschreibung der Naturkatastrophe veröffentlicht hatte, griff bald darauf auch sein Amtskollege Julius Ludovicus Stoltnau (1677-1727) zur Feder und publizierte 1721 in Hamburg eine eigene Darstellung der "beweinungswürdigen Trauernacht" in Ostfriesland.
Stoltnau war seit 1706 Seelsorger an der Bartholomäuskirche in Dornum und somit vor 300 Jahren ebenfalls Augenzeuge der Flutkatastrophe, die unendliches Leid über das Land brachte. Wie Hekelius beruft auch er sich auf Gewährsleute, die ihm das Chaos und ihren Überlebenskampf schilderten.
Drama in Dornum
So berichtet Stoltnau unter anderem, dass der einst in Petkum ansässige, dann aber nach Dornum übergesiedelte Graupenmüller Johann Tonjes am späten Abend des Heiligen Tages 1717 mit seiner Familie in guter Hoffnung zu Bett gegangen war, nachdem er "sein Haus wohl bestellt und seine Mühle wegen des starken Windes wohl verwahrt" hatte.
Zitat: "Bei anhaltendem Sturm aber, der immer stärker wird, kann er doch nicht schlafen, indes merkt er, dass der Wind sich mehr nordwestwärts wendet, darum will er wieder aufstehen. Er tritt aber bereits sehr erschrocken von seinem Bett sehr tief ins Wasser . . .". In rasender Geschwindigkeit ist die Flut ins Haus gedrungen, steigt immer höher und wirbelt das Mobiliar durcheinander. Tonjes flüchtet auf den Boden und dann ins Obergeschoss der Mühle. Stoltnau: "Seine liebe Frau und seine vier Kinder hat er nicht erretten noch helfen können, weil sie alle miteinander alsobald, nachdem er aus dem Bett gesprungen, durch die niedergeschlagenen Wände weggetrieben und jämmerlich umgekommen (sind)." Als später das Wasser abgeflossenwar, fand er nach und nach in der Umgebung seine vier toten Kinder. Der Leichnam seiner Frau blieb spurlos verschwunden.
In höchster Not
Über Edo Syben, Pächter auf dem Gehöft Mittelkiphausen bei Dornum, schreibt Stoltnau: "Obschon sein ganzes Wohnhaus durch die Macht der Meereswogen und alle seine schönen Mobilien und Hausgeräte weggetrieben, hat er sich noch kümmerlich mit seiner lieben Frau und sechs Kindern und seinem ganzen Hausgesinde auf die Scheune zu retten gewusst, worauf sie aber doch immer noch in höchster Gefahr geschwebt .. .". Von seinem Haus aus sieht Pastor Stoltnau "mit wehmütigen Augen", wie die Unglücklichen verzweifelt um Hilfe rufen. Erst am zweiten Weihnachtstag, als Wind und Wogen sich etwas beruhigen, gelingt es Nachbarn, aus großen Scheunentoren ein Floß zu bauen, mit dessen Hilfe sie die entkräfteten Menschen in Sicherheit bringen.
Nicht nur die von den Pastoren Hekelius und Stoltnau verfassten Beschreibungen, sondern auch andere Quellen wie eine bereits 1718 erschienene Schrift des Emder Predigers Gerhard Outhof oder Kirchenbücher aus einigen ostfriesischen Gemeinden sowie Dokumente der damaligen weltlichen Obrigkeit in Ostfriesland enthalten glaubhafte Informationen über die Vorgänge in der Orkannacht, als die verheerenden Wassermassen bis an die Geestgrenze, an einigen Stellen noch darüber hinaus ins Landesinnere vordrangen.
So gab der Geistliche Konrad Joachim Ummen in Jever schon wenige Monate nach dem Verhängnis in Versform eine "vollkommene Nachricht" der Wasserflut in der Herrschaft Jever heraus, die (übertragen in die heutige Schreibweise) mit den Worten beginnt:
"Die Christnacht war die Zeit, da Jeverlandes Blüte durch Sturmaus Nordnord-West zum Untergang gebracht, durch Sturm, der schon zuvor das bebende Gemüte mit seinem Grimm und Wut verzagt gemacht, der in derweiten See die Wellen aufgetrieben, wodurch die Deiche sind frühmorgens aufgerieben."
In Wittmund gestrandet
Zu den Zeitzeugen zählt auch der Wittmunder Pastor Hieronymus Brückner, der im Protokollbuch seiner Kirchengemeinde die Ereignisse im überfluteten Harlingerland schriftlich festhielt. Am 30. Dezember 1717, eine Woche nach der Weihnachtsflut, trieb nach seinen Angaben in Wittmund ein Schiff mit 80 völlig entkräfteten, teils nur notdürftig bekleideten Obdachlosen aus der Gegend um Funnix an. Einige wurden von hilfsbereiten Einwohnern, darunter auch von Pastor Brückner, freiwillig aufgenommen, andere mussten von der Obrigkeit zwangsweise auf private Unterkünfte verteilt werden.
Brückner schreibt, dass aus Sachsen und den süddeutschen Ländern immer wieder Geldspenden für die notleidenden Flutopfer kamen. Auch der ostfriesische Landesherr, der Cirksena-Fürst Georg Albrecht, habe mehrfach Geld aus eigenem Vermögen und Sachspenden aus eigenen Vorräten zur Verfügung gestellt.
Elend in Emden
In und um Emden waren nach übereinstimmenden Berichten die Deiche an mehreren Stellen gebrochen. Die Stadt und das Umland standen hoch unter Wasser. Überall sah man treibende Haustrümmer und Hausgeräte, ertrunkene Menschen und Viehkadaver. Die Straßen waren kaum noch passierbar. Der Geograf Friedrich Arends schrieb später: "Schwer litt die Stadt Emden. Mit Ausnahme der Deichstraße, des höchsten Punktes, war die ganze Stadt überströmt, in den meisten Häusern hatte das Wasser drei bis vier Fuß hoch gestanden, in manchen noch höher." In der Nähe des Hofes Constantia durchbrachen die Fluten den Deich und wühlten einen 25 Meter tiefen, 520 Meter langen und 125 Meter breiten Kolk, den Larrelter Kolk, auf. Der Wiederaufbau des Deiches zog sich über acht Jahre hin.
1717 auf den Inseln
In ihrem nach einer alten Pfarrchronik verfassten Buch "Das Eiland der Bedrängten" erzählt die Leeraner Schriftstellerin Sophie Fastenau (1872-1949) eine Tragödie, die sich in der Weihnachtsflut auf der Insel Juist tatsächlich so zugetragen hat. Zitat aus der dichterisch etwas ausgeschmückten Schilderung:
"Es war der Heiligabend 1717. Schon hatte tagelang ein heftiger Wind, zuerst aus Süd, dann aus Nordwest geweht, und furchtbar tobte nun das aufgepeitschte Meer. Dazwischen dröhnten heftige Kanonenschüsse von einem großen Kriegsschiff, das, von England kommend, hier vor der Insel mit dem Tode rang. Was tun? Bei diesem Sturm war an Rettung nicht zu denken, denn jedes Boot wäre in der Brandung gleich zerschellt. So kam der Heiligabend in das Land, und zahlreich fand sich die Gemeinde aus dem West- und Ostdorf im kleinen Kirchlein ein. Nicht ahnend der Gefahr, so waren einige aus dem Ostdorf im Westdorf nach dem Gottesdienst geblieben, mit Freunden noch ein Stündchen zu verplaudern. Zur späten Stunde heimwärtskehrend, braust plötzlich eine mächtige Flut heran, bedeckt die Wanderer und wälzt sie den Dünen zu, wo andern Tagsman ihre Leichen fand. Welch grausige Nacht! Die Kirche stürzte ein, und neun der 18 Häuser auf dem Westend wurden mit Menschen, Vieh und Hausrat in das Meer gespült. Die anderen stürzten ein. Dazwischen dröhnte immer flehender der Hilfeschrei des unglückseligen Schiffes, und doch: Es war an Rettung nicht zu denken. Viermal durchbrach in jener Nacht das Meer die Insel und riss dabei die Dünen mit sich in die Tiefe. Und während dieser wenigen Stunden ertranken 28 Menschen, an Vieh drei Pferde, 21 Kühe und 68 Schafe. Ein Opfer dieser grausigen Nacht ward auch das Schiff mit seiner sämtlichen Besatzung." Noch bis 1731 war laut Fastenau die Ruine der Kirche zu sehen, dann wurde aus ihren Resten im Ostteil der Insel ein neues Pfarrhaus errichtet. Bis heute wird behauptet, dass ein Prediger namens Elias Tilen die Flutkatastrophe auf Juist vorhergesagt habe.
Dünen zerrissen
Die Nachbarinsel Norderney kam glimpflicher davon. Nach Angaben des ostfriesischen Geschichtsschreibers Dothias Tilemann Wiarda wurde ein Haus "gänzlich weggespült", 20 Gebäude erlitten erhebliche Schäden und 20 Stück Vieh kamen in den Fluten um. Die Wellen zerschlugen mehrere Fischerboote und zerstörten alle seit 1705 nach niederländischem Vorbild angelegten Sandfangzäune. Auf Baltrum entstand eine tiefe Rinne quer durch die Insel. Auf Langeoog zerrissen die Fluten die Dünengebiete in drei Teile.
Schlimm sah es auf dem gegenüberliegenden Festland in Norden und den umliegenden Landgemeinden, vor allem in der Westermarsch, aus. Auch darüber liegen Augenzeugenberichte, Dokumente und Beiträge von Historikern vor.
Sturmflut in Dornumersiel, getuschte Federzeichnung von Ludwig Kittel.
1951 ließ der auf Juist lebende Künstler Lorenz Hafner in der Graphischen Kunstanstalt Siebolts in Norden sein handgeschriebenes und mit vielen Zeichnungen versehenes Inselbuch "Juist" herstellen. Darin geht er in Wort und Bild auch auf die Tragödie in der Christnacht 1717 ein.
Der Deichdurchbruch, ein Stich von H. Wintersteyn aus dem 17. Jahrhundert.