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Insel und Küste | Weihnachtsflut 1717 | Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | DeichachtOstfriesischer Kurier und NBZ (Serie erschien vom 18.11.2017 - 23.12.2017)
Nachhaltige Konsequenzen aus der Katastrophe
Nach der verhängnisvollen Weihnachtsflut vom 24. auf den 25. Dezember 1717, vor genau 300 Jahren, musste der Landwirt Albert Brahms mit Frau und Kind noch zwei weitere Nächte und drei Tage auf dem Dachboden seines von Wasser umgebenen Hofes im jeverländischen Sande zubringen. Erst dann konnte sich die Familie wieder ins Freie wagen und im schwer beschädigten Haus das Notdürftigste retten.
Von da an handelte Brahms nach dem ihm zugeschriebenen Wahlspruch "Kein Deich, kein Land, kein Leben". Neben der bäuerlichen Tätigkeit wurde der Küstenschutz zur Lebensaufgabe. Obwohl er keine höhere Lehranstalt besucht hatte. beschäftigte er sich als Autodidakt schon seit der Jugendzeit intensiv mit dem Deich- und Wasserbau und mit Vermessungssystemen.
Vorbildlich
Schon drei Wochen nach der Flutkatastrophe schlug Brahms der staatlichen Obrigkeit erste Sicherungsmaßnahmen vor. Im Februar 1718 leitete er Instandsetzungsarbeiten, kurz danach wurde er im Alter von 25 Jahren zum Deichrichter im Sander Kirchspiel ernannt. 1721 konnte er nicht nur den Bau höherer und im Querschnitt verstärkter Deiche, sondern auch die deutliche Abflachung der Außenböschung auf der Seeseite durchsetzen. Dadurch und schon im Vorland wurde der Wellenangriff großflächiger verteilt. Mit dieser Pionierleistung setzte er neue und vorbildliche Maßstäbe für den künftigen Deichbau und den Schutz gegen die Nordsee an der gesamten Küste. Sie wirken bis heute nach.
1754/57 veröffentlichte Brahms, der ein gefragter Mann war und weit über Norddeutschland hinaus Kontakte pflegte, bei Hermann Tapper in Aurich sein zweibändiges Fachbuch "Anfangs-Gründe der Deich- und Wasser-Baukunst", versehen mit "gründlichen Anweisungen, wie man tüchtige haltbare Dämme wider die Gewalt der größten Seefluten" baut. In der Publikation berief er sich als Zeitzeuge immer wieder auf die Erfahrungen aus der Weihnachtsflut 1717, die er als Warnung und Wendepunkt zugleichverstand und daraus die Konsequenzen zog. Brahms starb 1758. "Wir ehren in ihm einen denkwürdigen Deichbauer und Deichrichter des 18. Jahrhunderts", schrieb 2004 der Norder Küstenschutzexperte Heie Focken Erchinger.
Aus heutiger Sicht ist klar, dass keine spätere schwere Sturmflut so viele Todesopfer gefordert, weiträumige Überschwemmungen und unvorstellbare Schäden verursacht hat wie die in der ostfriesischen Landesgeschichte unvergessene Naturkatastrophe vom Heiligen Abend auf den ersten Weihnachtstagdes Jahres 1717. Gleichwohl gaben die Küstenbewohner und die Obrigkeit nicht auf und ihre Heimat der See nicht preis. Manchen Rückschlägen zum Trotz konnte viel verlorenes Land wieder eingedeicht werden. So entstanden Neuland und Neusiedlungen auf fruchtbaren Polderflächen.
Das Verhängnis von 1717 und seine Folgen blieben über viele Generationen hinweg lebendig und führten dazu, dass die Menschen bei außergewöhnlichen Wetterlagen wachsamer und vorsichtiger wurden und im Deichbau und Küstenschutz nach damaligen Umständen einigermaßen wirksame Vorkehrungen trafen. Als Preußen 1744 nach dem Aussterben des Fürstenhauses Cirksena Ostfriesland übernahm und eine feste staatliche Ordnung einführte, war damit auf Dauer auch die behördliche Aufsicht über das Deich- und Sielwesen in der Region verbunden.
Die Februarflut 1825
Auf jeden Fall wies eine erneute schwere Sturmflut, die am 3. und 4. Februar 1825 in ihrer Gewalt und Wucht der Katastrophe von 1717 durchaus vergleichbar war, zumindest in ihren Auswirkungen einige Unterschiede auf. Ein Beamter des Königreichs Hannover, zu dem Ostfriesland von 1815 bis 1866 gehörte, stellte in einer umfangreichen Untersuchung fest, dass die nunmehr "größere Höhe der Deiche" an der deutschen Nordseeküste das dahinter liegende Land besser schützte, "als dieses am Weihnachtsabend 1717 der Fall war". Daher sei der Verlust "dem damals erlittenen Unglück nicht gleich und vielfach geringer". Die auf einigen extrem gefährdeten Strecken nach neuen Maßstäben gebauten Dämme hatten demnach ihre erste Bewährungsprobe bestanden.
Vermutlich deshalb lag 1825 die Zahl der im ganzen deutschen Küstenbereich ertrunkenen Menschen (nach bis heute unterschiedlichen Angaben zwischen 200 und 800) deutlich niedriger. Aber verallgemeinern ließ sich dieser Eindruck noch lange nicht, zumal man vielerorts davonüberzeugt blieb, dass die künftige Bemessung der Deiche nach der Höhe der Weihnachtsflut von 1717 ausreichend sei. Dies sollte sich in der Folgezeit immer wieder als Irrtum erweisen.
Noch unter dem Eindruck der Februarflut 1825 berichtete der Geograf und Historiker Friedrich Arends über Deichbrüche im Norderland: "Keine Gegend in Ostfriesland hatte größeren Schaden an den Deichen als das Amt Norden, und nirgends im ganzen Königreich Hannover war solcher drückender für die Eingesessenen... Diese Strecke, der Norddeich genannt, ist den Nordwest-Stürmen völlig ausgesetzt und wird jetzt von der See sehr stark bedrängt. Das Vorland ist nicht nur ganz verschwunden, auch das Watt vor dem Deich wird immer niedriger und dadurch die Gefahr für diesen Deich täglich größer."
Auch für das Hinterland wirkte sich die ausgerechnet in diesem Gefahrenbereich seit einigen Jahrzehnten offensichtlich vernachlässigte Deichsicherheit verheerend aus. Das gesamte Norder Umland und die umliegende Marsch standen mit Ausnahme der hochgelegenen Stadtbezirke unter Wasser. Am Hafen (Siel) strömte die Flut über den Deich in die südliche Altstadt hinein und gen Osten bis nach Bargebur, wo sich die Bewohner - wie 1717 - in der Kirche in Sicherheit brachten.
Umdenken
Doch anders als 1717 stellte der Staat, in diesem Fall die königlich-hannoversche Regierung, nicht nur ausreichend Finanzmittel, sondern auch Arbeiter zur Wiederherstellung der Deiche zur Verfügung. König Georg IV. bewilligte die Geldmittel als zinsloses Darlehen, das er später, nachdem ein Teil pünktlich zurückerstattet worden war, ganz erließ. Damit setzte erstmals eine Umverteilung der sogenannten Deichlasten und damit ein nachhaltig wirkender Prozess des Umdenkens ein. So wuchs die Erkenntnis, dass die Sicherheit des Deiches der Allgemeinheit dient und ihr zugutekommt - und dass sie dafür auch zahlen muss.
Die Antwort der Menschen auf die Bedrohung durch schwere Sturmfluten - wie später vor allem während der Hollandflut 1953 und der Februarflut 1962 - war die stetige Erhöhung und Verstärkung der Deiche wie auch die Schaffung von Schutzanlagen auf den Inseln. Mithilfe neuer, von wissenschaftlichen Untersuchungen begleiteten Deichbauverfahren und durch den Einsatz von Baugeräten nach neuestem technischen Standard sind die Bollwerke gegen die Nordsee nach menschlichem Ermessen heute so hoch und stark wie nie zuvor und können noch weiter erhöht werden. Konkret: Mit bis zu neun Metern über Normalnull sind die Deiche nach heutigen Bemessungen fast doppelt so hoch wie vor 300 Jahren. Hinzu kommt ein rechtzeitiges, effektives Warnsystem.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in der Bundesrepublik Deutschland der Küstenschutz und dessen Finanzierung als Gemeinschaftsaufgabe des Bundes und der Länder festgeschrieben und im Grundgesetz verankert. Das heißt, "dass eine ganze Nation - mit dem Großteil der Bevölkerung weit weg von der Küste - diese Aufgabe gemeinsam trägt und solidarisch ist", wie Walter Theuerkauf jetzt in einem Gedenkgottesdienst in Norden treffend formulierte. Planung und Bau von Deichen und Küstenschutzwerken ist heute eine Landesaufgabe, die in Niedersachsen der in Norden ansässige Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) wahrnimmt. Die Unterhaltung der Deiche und die Vorsorge für die Deichverteidigung dagegen ist - in Selbstverwaltung - Aufgabe der Deichachten.
Absolute Sicherheit?
Alle kompetenten Experten sind sich darin einig, dass eine absolute Sicherheit hinter den Deichen nicht geschaffen werden kann. Der Anstieg des Meeresspiegels ist eine fortwährende Warnung. "Wir müssen einfach mit der Unsicherheit leben, nicht genau zu wissen, was kommt", sagte dieser Tage Prof. Frank Thorenz (Norden) bei einer in Emden stattgefundenen Gedenkveranstaltung an die Weihnachtsflut 1717. Der Küstenschutz bleibt eine Daueraufgabe, stetige Wachsamkeit ist oberstes Gebot.
Doch wahr bleibt auch eine Feststellung des früheren Oberdeichrichters Gehlt Noosten: "Der Deich erst machte das ungesicherte, immer wieder überflutete Land zum Festland, gab den hier lebenden Menschen das Gefühl für Bodenständigkeit und stärkte ihre Zuversicht, ihren Glauben an eine Zukunft ohne Angst."
Die See greift an: Sturmflut an der Norddeicher Mole Anfang der 1930er-Jahre.
Modell der Deichacht Norden: Die Deichhöhen und -profile von 1717 und 2017 im Vergleich.